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Essen, eine gemordete Stadt und …

Stadtbild, was ist darunter zu verstehen? Erstaunt nehmen wir zur Kenntnis, dass eine Bemerkung des Bundeskanzlers Merz, mit dem Stadtbild habe man, bezogen auf die Migration, noch „dieses Problem“, eine aufgeheizte Diskussion losgetreten hat, die im Folgenden mehr mit Unterstellungen als mit fundierten Sachargumenten glänzte. In dieser Kakophonie im politischen Raum war Ahmad Mansour einer der wenigen, der die Debatte versachlichte und konkretisierte, nämlich dass es eine bestimmte Migration sei, die vor allem seit 2015 viele Kommunen bis heute überfordert. Aber damit sei natürlich die Debatte nicht beendet, denn hinter dem Begriff Stadtbild verbirgt sich ein komplexes Problem.

Beginnen wir mit der Hardware, dem Straßenbild mit den Gebäuden: Nach der Machtübernahme Hitlers versprachen die Nazis großmäulig, nicht nur die Kunst,  sondern auch unsere Städte von aller „Entartung zu säubern“. Aber anders als Gemälde haben Gebäude den Vorteil, nicht einfach gestohlen, vernichtet oder ins Ausland verscherbelt zu werden. Die Bauten des Bauhauses, auch bspw. die Weissenhofsiedlung von Le Corbusier kamen daher relativ glimpflich davon, und retteten sich über den Krieg. Anders unsere Städte, die nach 12 Jahren Hitler-Herrschaft durch den Bombenkrieg schwer geschunden darnieder lagen. Essen, die Heimstätte der Kruppschen Waffenschmiede, wurde ab März 1942 sogar bevorzugt mit Bombenteppichen belegt, die bis Kriegsende ca. 60 Prozent der Gebäude in Schutt und Asche legten.

Der Wiederaufbau war nicht nur in den Ruhrgebiets-Städten vom Diktat der Moderne bestimmt. Mit „schneller Kelle“ wurde auf die historische Bausubstanz meist wenig Rücksicht genommen, denn es galt, dringend verlorenen Wohnraum zu schaffen. Die Funktion hatte die Ästhetik zu bestimmen, und nicht selten spielten ästhetische Überlegungen so gut wie keine Rolle. Aber es gab auch Innovationen, bspw. wurde die Ofen- von der Zentralheizung verdrängt, und fast jede neue Wohnung bekam ein eigenes Bad mit Warmwasser, ein nicht zu verachtender Fortschritt. Meine Großmütter lebten in Berlin-Neukölln noch in Altbauwohnungen, die den Krieg überstanden hatten. Sie wurden mühselig mit Briketts beheizt, auch das Wasser im Bad wurde erst mit einem Kohleofen aufgeheizt, bevor man baden konnte. Meine Großmutter mütterlicherseits hatte nicht einmal ein Bad, sie musste sich mit einer Nachbarin die Gemeinschaftstoilette eine Treppe tiefer teilen und lief, mich gelegentlich als kleinen Steppke mitnehmend, in das öffentliche Bad in der Ganghofer Straße. Das war ein im Jahre 1914 erbautes Bad, das inzwischen unter Denkmalschutz steht.  

Es gab also mit dem Wiederaufbau zweifellos einen zivilisatorischen Fortschritt. Das Bauhaus und Le Corbusier vor allem wurden die Auguren der modernen Nachkriegsarchitektur. Die Stuckateure, ehemals ein hochrespektierter Beruf des Kunsthandwerks, verloren mit ihnen ihre Raison d’être. Am radikalsten formulierte es Le Corbusier: Man müsse für den „Mensch Maschine“ bauen, und dem würde eine Deckenhöhe von 2,20 Meter genügen; das war rund 1 Meter niedriger, als man es bei Altbauwohnungen gewohnt war. Damit kam Le Corbusier in Deutschland nicht durch. Aber autogerecht, das wollte Essen durchaus werden. Statt für den rasant zunehmenden Verkehr einen Ring zu bauen, kamen aber hier die Stadtplaner auf die Idee, die Stadt mit zwei vierspurigen Trassen regelrecht zu tranchieren. 

Essen, eine tranchierte Stadt

Anfang der 70er-Jahre wurde mitten durch die Stadt eine vierspurige Autobahntrasse gezogen, die A 40 mit täglich bis zu 100.000 Fahrzeugen zählt sie bis heute zu den meistbefahrenen Strecken unserer Republik. Diese Trasse trennte den Norden mit der Kernstadt, also der eigentlichen City,  vom Süden. Das hatte soziale Folgen, die lange Zeit wenig Beachtung fanden, bis der Stadtsoziologe Michael Happe 2006 in einem Gutachten diesen Missstand öffentlich machte: Die A 40 betätige sich fatalerweise als „Sozialäquator“. Die schwach und mehrheitlich vom Prekariat bewohnte Innenstadt hätte sich zur „Bronx“ entwickelt, für eine Großstadt dieses Formats ein einzigartiges Phänomen. Nun kam man nicht umhin, sich diesem Faktum zu stellen und meldete Handlungsbedarf an. Man sprach z. B. im Stadtentwicklungsplan von 2015 (StEP 2015) von einer notwendigen Wohnraumoffensive, sie fand aber dann schlicht nicht statt, wie so viele Ideen, die nie umgesetzt wurden.

Dann kam 2015, ein Schicksalsjahr für Deutschland – und so auch für die Steeler Straße, unserem Thema.

Steeler Straße – eine pars pro toto-Betrachtung

Als wichtige Nord-Süd-Verbindung ist die Steeler Straße eine wichtige Essener Verkehrsachse, die die Innenstadt mit dem südöstlich gelegenen Ortsteil Steele verbindet. Als Besonderheit wird diese Verbindung nicht nur von der A 40, sondern ein weiteres Mal von der hochfrequentierten A 52 tranchiert. Dieses nur rund 300 Meter lange tranchierte Teilstück zwischen diesen beiden Trassen wollen wir betrachten. Wie in einem Brennglas birgt diese Straßenzeile alles an dramatischen Veränderungen, was wir gegenwärtig zum Thema Stadtbild in unserem Land debattieren.

Einem aufmerksamen Flaneur erschließt sich vieles

Vor dem Krieg war es ein Quartier, das „von wohlhabenden Bürgern und der Mittelschicht bewohnt wurde. Die Gegend beherbergte elegante Wohnhäuser und zeigte einen gewissen Wohlstand.“ Das mag sich nach dem Krieg geändert haben, fügt ChatGPT auf meine Anfrage hinzu.  

Früher führte die Tram 103 oder 109 im 5-Minuten-Takt bis nach Steele. (Die Straßenbahn war wegen Sanierungsarbeiten über viele Jahre stillgelegt worden.) Die Haltestelle „Steeler Wasserturm“ befindet sich auf dem sogenannten „Steeler Berg“, der aber mit nur 80 Metern über dem Meeresspiegel eigentlich nur ein Hügel ist. Linker Hand steht ein mächtiger quadratischer Backsteinbau mit einem grünen Stahlkessel on top: Der Steeler Wasserturm, Hausnummer 137. Bis heute versorgt er den Stadtteil mit Frischwasser. Als man nach 1945 seine Funktion wiederherstellte, hatte man aus Kostengründen, vielleicht auch, weil man es aus ästhetischen Gründen für unnötig erachtete, auf eine komplette Restaurierung im historistischen Stil verzichtet. So fehlen die zwei 33 Meter hohen Ecktürme und die Backsteinverblendung des Kessels. (Vgl.  Wikipedia.org, Steeler Wasserturm) Er kann zum Symbol für das Flickwerk der Nachkriegszeit genommen werden. Wir gehen weiter, und es kommt noch augenfälliger, denn

eine vom Krieg gezeichnete Fassaden-Kakophonie …

begegnet dem, der weiter in Richtung Steele flaniert: Offensichtlich haben Bombenteppiche hier ganze Arbeit geleistet. Anders als in anderen Städten wurde nicht im Ansatz versucht, das historische Straßenbild wiederherzustellen, es dominiert Schlichtheit, diktiert von einem begrenzten Budget. So stechen die wenigen Altbauten heraus, die überlebt haben. Die Stadtplaner hatten zudem die autogerechte Stadt im Kopf, als sie eine neue Straßenbreite definierten, die jedoch nicht konsequent umgesetzt wurde. So kam es zu dem Kuriosum, dass die Nachkriegsfronten um mehr als 2 Meter von den fünf Bestandsbauten, die den Krieg überlebt haben, zurückspringen. Drei Generationen später stehen diese noch immer, zum Glück, denn das Straßenbild profitiert von diesem Nachklang aus besseren Zeiten.

Mehr noch als der Fassadenversprung irritiert das Auge eine weitere Besonderheit: Einer Reihe von Eigentümern fehlte nach dem Krieg die Finanzkraft für einen ordentlichen Wiederaufbau; so beließ man es mangels Masse vielfach bei dem Ausbau der ein- oder zweigeschossigen Ruine und bewirtschaftete nur das Erdgeschoß.

 

Fassaden-Kakophonie

Fassaden-Kakophonie

Nicht selten schlug man, der vorherrschenden Ideologie gehorchend, zudem den Stuck ab und glättete oder verkleidete die Fassade z. B. mit Faserzementplatten, die ab Mitte der 60er-Jahre en vogue waren. (Vgl. auch „Die gemordete Stadt“ von W. J. Siedler 1964) Zwei Eckhäuser zeigen im Gegenspiel geradezu exemplarisch den Vor- und den Nachkriegszustand.  

Oft sieht man nicht Eckhäuser von so unterschiedlichem Charakter auf einer Meile von 150 Metern: Jahrhundertwende (ca. 1900) / wiederaufgebautes Nachkriegshaus mit Faserzementplatten, ein Torso  und das einzige moderne Wohn- und Geschäftshaus aus der Jahrtausendwende

Eckhaus Jahrhundertwende

Die gemordete Stadt: Faserzement vs. alte Stuckfassade und die Moderne

Zementfasereckhaus

Die gemordete Stadt: Faserzement vs. alte Stuckfassade und die Moderne

Modernes Eckhaus

ca. Mitte der 90er Jahre

Die gemordete Stadt: Faserzement vs. alte Stuckfassade und die Moderne

Wer nicht mit wachen Augen andere Städte bereist hat, die den Krieg unversehrt überstanden haben, wird diese Kakophonie leicht unkritisch als gewohntes Stadtbild verinnerlichen, und wer aus schlimmeren Verhältnissen von weither zu uns gekommen ist, der bringt die ästhetische Wahrnehmung aus seiner Heimat mit. Ein ästhetischer Geschmack als gemeinsames Kulturgut, was man z. B. in Frankreich beobachten kann, kann sich bei diesem Durcheinander hier kaum bilden.

Einige erhalten gebliebene Altfassaden aus der Jahrhundertwende vermitteln immerhin einen Eindruck, wie dieser Straßenzug einmal ausgesehen hat.

Steeler Str. 167

Zeittypischer Stuk

Wer genauer hinschaut, erkennt z. B. die klassische Strukturierung der Geschosse, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts bis zum I. Weltkrieg durchaus typisch waren: im Erdgeschoß kleine Ladenlokale, dann das begehrte 1. Obergeschoß mit repräsentativem Stuck über den Fenstern, das 2. Obergeschoß mit etwas sparsamerem Stuck und das oberste 3. Obergeschoß schließlich schlicht ausgestaltet.

Nachkriegsbauten gerade der 50er- und 60er-Jahre zeichneten sich hingegen durch einheitlich „schnörkellose“ Fassaden aus, und nebenbei gewann man zudem beim Wiederaufbau ein Geschoß hinzu, indem man die Deckenhöhe im Vergleich zum Altbau reduzierte.

Vorkriegsbau vs. Nachkriegsbau: Aus drei mach vier Geschosse

Dank der starken industriellen Basis von Essen blühte diese gerupfte Straßenzeile bis in die 80er -Jahre dennoch beachtlich auf: Es siedelten sich eine Poststelle, eine Parfümerie, ein gut geführtes Haushaltswarengeschäft, zwei Blumengeschäfte, ein Metzger mit einem beliebten Mittagstisch, zwei Juweliere und last not least vier Bankfilialen an. Dazu kamen einige Arztpraxen und drei Apotheken.  Als ein ausgesprochener Glücksfall erwies sich die Eröffnung eines Kinos im Jahre 1955, das zur Freude seiner treuen Fans als Programmkino bis heute überlebt hat: der Eulenspiegel.  

Italiener (Trattoria Salvatore) und Griechen (Akropolis) gründeten neben einem Chinesen eine kleine Bistro-Szene, auch ein Jugoslawe fehlte nicht. Alles in allem entstand für die anliegende Wohnbevölkerung eine kleine Einkaufszone, ein urbaner Mix, der zudem durch den ÖPNV hervorragend angebunden war. Als angesagte Industriemetropole in Augenhöhe mit Frankfurt oder Stuttgart hatte sich Essen ganz ordentlich berappelt, eine Zeitlang jedenfalls.

Das Ruhrgebiet kannte schon lange Zuwanderungen, ohne sie wäre die rasante Entwicklung als Kohle- und Stahl- Region gar nicht denkbar gewesen. In den „glorreichen drei Dekaden“ nach dem II. Weltkrieg kamen die angeworbenen Arbeitskräfte vornehmlich aus Polen, Italien, Griechenland und Jugoslawien, vornehmlich also aus dem benachbarten europäischen Raum. Ab den 60er-Jahren kamen Gastarbeiter auch aus der Türkei, später nicht wenige auch aus Marokko. Anders als gedacht, blieben viele von ihnen in Deutschland und gründeten Familien. Das ging nicht ohne Reibungsverluste ab, aber die Probleme blieben insgesamt beherrschbar, auch als das Ruhrgebiet schon längst seine ursprüngliche Strahlkraft verloren hatte.

Anders als die europäische Zuwanderung, die in die hiesigen Strukturen aufgingen, bildeten die türkischen Communities z. T. eigene Parallelgesellschaften mit großen Bezügen zu den Traditionen ihrer Heimat. Als Untersuchungen ergaben, dass 80 Prozent der türkischen Mitbewohner*innen, viele davon Doppelstaatler, den Potentaten Erdogan gewählt hatten und nicht den demokratischen Oppositionsführer, war bei uns das Staunen groß. War es nicht Erdogan, der seine Landsleute hier in Deutschland aufforderte, sich nicht zu assimilieren?  (Zum Vergleich: In Kanada wählten ihn nur 40 Prozent! Diese Besonderheiten, anderes kam noch hinzu, waren lange übersehen worden.

Dann kam das Jahr 2015, und mit ihm eine Welle einer muslimisch-arabischen Zuwanderung.  Auch sie lebt nun in diesem Quartier und prägt das Stadtbild.

Steeler Straße – ein schwindender europäischer Mix

Schon ab Mitte der 90er-Jahre stellten sich in dieser urbanen Melange, zunächst schleichend, Veränderungen ein, und die hatten mit der Zuwanderung zunächst nichts zu tun. Als erstes machte die Digitalisierung den Bankfilialen den Garaus, von den vier Filialen blieb bis heute nur eine übrig! Deren Leerstände wurden nach und nach von Billigfilialisten, wie NKD, TEDI, 1 Euro-Shop u. Co.  gefüllt und – von einem türkischen Gemüsehändler, der von der Wohnbevölkerung gut angenommen wurde. Auch der beliebte deutsche Metzger wurde recht erfolgreich von einem Türken übernommen. Der Umbruch setzte sich fort: Die inhabergeführten Geschäfte beklagten sinkende Umsätze und fehlenden Nachwuchs.  So gaben z. B. zwei Juweliere, ein Optiker und zwei Blumenläden auf. Auch die Parfümerie neben dem Kino sowie eine Apotheke schlossen. Leerstände wurden nicht mehr von einheimischem Nachwuchs gefüllt. Dass nichts nachkam, hatte mit der verheerenden Vernachlässigung der sogenannten Familienpolitik zu tun, wir reden über insgesamt 23 Jahre relativer Ignoranz seit der Kanzlerschaft Schröder und Merkel. Man sorgte aber auch nicht für eine angemessene Steuerung der Zuwanderung.

Die von vielen geteilte Hoffnung Merkels, dass die forcierte unregulierte Zuwanderungswelle ab 2015 auch für die Arbeits- und Konsumwelt hilfreiche Impulse bringen würde (vgl. z. B. auch die inzwischen falsifizierte Prognose von Marcel Fratzscher, DIW), ist inzwischen in der Bevölkerung einer frustrierten Ernüchterung gewichen.  Allzu naiv waren die Erwartungen, dass die Massen aus kulturfremden Räumen sich weitgehend friktionslos und willig mit Hilfe der von oben angestoßenen „Willkommenskultur“ einrichten würden: Sie brachten stattdessen ihre Traditionen, ihr überliefertes Können und ihre Konsumgewohnheiten mit und hielten daran fest – und darüber kann sich eigentlich niemand wundern. So füllten die zu uns gekommenen muslimischen Araber, aus Syrien, dem Irak usw., zwar die zunehmenden Leerstände, damit durchaus in der Tradition Mohammeds, der selbst Händler gewesen war, aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Als eine der ersten siedelte sich in der Steeler Straße eine Cocktail- und Shisha-Bar an, es folgten Tabak-Geschäfte, die auch Shisha-Pfeifen verkauften, hinzu gesellte sich ein Händler für gebrauchte Smartphones, und neben dem etablierten türkischen Gemüsehändler etablierte sich ein arabischer Obst- u. Gemüseladen „Bagdad“.

Obst- und Gemüseladen „Bagdad“

Arabische Bäckereien bieten für ihre Kundschaft traditionelle Fladen an. Auch der klassische Döner fehlt nicht mehr. Dieses Bistro löste ein gut geführtes Fischgeschäft ab. Die Parfümerie mit der geschmackvollen Granitfassade in der Nr. 214, ein zweigeschossiger Kriegs-Torso, hielt sich erstaunlich lange. Vor ein paar Jahren zog aber auch dort ein arabisches „Outlet“ ein, das basarähnlich alles Mögliche, Haushaltswaren, Taschen usw. zu günstigen Preisen veräußert, wenig später kam etwas weiter unten im Haus Nr. 266 das „Babylon“, hinzu, das Ähnliches anbot. Der muslimische Metzger bietet trotz berechtigter Bedenken der Tierschützer Halal-Fleisch an, d. h. die Tiere werden nach dem islamisch geforderten Ritus getötet. Üblicherweise werden die Tiere betäubt, bevor ihnen lebendig die Kehle aufgeschnitten wird. Verfassungsgerichtlich wird sogar gelegentlich auch den Wünschen orthodoxer Muslime entsprochen und das Schächten ohne Betäubung genehmigt. Wie es bei dem aus arabischen Ländern importieren Halal-Fleisch gehalten wird, weiß ohnehin niemand so recht.  Last not least ließen sich auf einer Zeile von nur rund 200 Metern vier arabische Herrenfriseure nieder. Die nachgezogenen meist Kopftuch tragenden Frauen scheinen das kritiklos zu akzeptieren. Anwohner fragen sich jedoch, wie sich diese ungewöhnliche Häufung rechnen mag, abgesehen davon hätte man früher, so eine ältere Anwohnerin, die in der Nähe selbst einmal ein Geschäft geführt hatte, eine solche Häufung desselben Gewerbes amtlicherseits gar nicht genehmigt.

Zweifellos handelt es sich im Saldo um einen disruptiven Prozess, und nicht nur die Ansiedlung der vier muslimischen Herrenfriseure sind augenfällige Anzeichen einer kulturfremden Ansiedlung. Unter einem rein ökonomischen Aspekt haben wir es mit einem Downtrading zu tun, und diese Umschichtung der Gewerbe korrespondiert mit der Umschichtung der Wohnbevölkerung in diesem Quartier.

Was wird bleiben? Dort, wo ein kulturübergreifender Bedarf besteht, halten sich die Geschäfte wie bspw. die moderne Drogerie, auch die beiden Discounter, die sich in den letzten Jahren etwas abseits angesiedelt haben. Sie können sich über Zulauf nicht beklagen. Auch die guten Arztpraxen im gepflegten Nachkriegshaus Nr. 204 werden bleiben, denn ihre Leistungen werden von der Kasse bezahlt. Unsere Zivilisation gewährleistet allen, auch den Zugewanderten, woher sie auch kommen, eine angemessene medizinische Versorgung, etwas, was sie in der Regel aus ihren Heimatländern nicht kennen. Bleiben wird auch die ausgezeichnete Apotheke direkt an der Straßenbahnhaltestelle gegenüber dem Gemüsehändler „Bagdad“, aber kann man hier noch sicher sein? Nachdem die Online-Krake die Medikamentenversorgung als Geschäftsfeld entdeckt hat, fürchtet auch dieser Apotheker um sein Geschäft. Und wie steht es mit dem orthopädischen Schuster gegenüber im schönsten Jahrhundertwende-Haus Nr. 167? Der Inhaber schaut mit stoischem Blick zurück: Die Einnahmen seien einstmals wegen der Kriegsversehrten bis in die 90er-Jahre relativ stabil gewesen, diese Zeiten wolle man natürlich nicht zurückhaben. U. a. weil die Kassen immer öfter den Rotstift ansetzen würden, gehe das Geschäft nicht mehr gut, und nicht zuletzt schlägt auch bei ihm das Onlinegeschäft zu. Nicht selten würden sich die Kunden für die Billigangebote aus China entscheiden. Einen Nachfolger für sein Geschäft, den sieht auch er nicht.

Das orthopädische Geschäft Struzek

 im Haus 167

Im Café: „Vielfalt“ oder Babylon?

Eine Bereicherung erfuhr die Straßenzeile zweifellos mit der Ansiedlung von zwei Cafés, eins davon hat sich in einer ehemaligen Bank eingerichtet. Das Geschäft läuft: Morgens um 8 Uhr ist da noch nicht viel los, aber um 10 oder 11 Uhr muss man gelegentlich schauen, wo man noch einen Platz ergattern kann.

Kaffeehäuser sind heute nicht mehr das, was sie mal waren. Früher lagen für die Kunden bspw. zwei, drei Tageszeitungen aus. Heute muss man sie kaufen, aber immerhin, sie gibt es. Wer liest sie? Viele Zugewanderte, zumal aus dem muslimischen Raum, kommen aus Kulturen, in denen Zeitungen generell nicht zum Alltag gehören. Ohnehin haben nun die Smartphones die Printmedien vielfach verdrängt. Was an den Tischen jeweils gescrollt wird, kann man nur vermuten. Individualisierung trifft es nicht, was wir beobachten können, es werden je nach Sprachraum diverse Echokammern gesucht, es fragmentieren sich so die Parallelwelten, eine kulturelle Integration kann so kaum gelingen, unsere Gesellschaft jedenfalls wird davon kaum profitieren.

Dennoch: So ganz sterben die Printmedien nicht ab. Ein kleines Geschäft neben der Apotheke hält nicht nur die Regenbogenpresse für die weibliche Kundschaft bereit, sondern sogar überregionale Tageszeitungen. Dieses Lokal wird von einem freundlichen, wunderbar melodisch deutschsprechenden Inhaber geführt wird, einem Sikh, wie ich erfahre. Ihm und seiner Mitarbeiterin kennt man die Herkunft oder die religiöse Überzeugung nicht an. Im Gespräch erfahre ich, dass rund 1500 von ihnen bei uns in Essen leben, manche Männer zeigen sich mit einem Turban, ein Zeichen der Ehre. Anders als bei den Muslimen sind deren Frauen gleichberechtigt, auch im religiösen Leben. Sikhs leben völlig unauffällig unter uns, sind fleißige Mitbürger im besten Sinne des Wortes.  Ich stelle fest: Es geht also, auch wenn sie von weither kommen, und es sind somit nicht nur die Asiaten, die unser Stadtbild bereichern!

Kaffeehaus-Beobachtungen

Im Café herrscht ein vielstimmiges Geraune. Was in der Kundschaft beredet wird, versteht man meist nicht, denn etwa die Hälfte der Kundschaft, manchmal mehr, spricht eine Fremdsprache, sei es Serbisch, Türkisch, Arabisch, Kurdisch, Persisch, Russisch oder Ukrainisch. Da ist bspw. der Tisch mit vermutlich serbischen oder kroatischen Frauen gegenüber am Fenster. Sie sind westlich gekleidet, nur die Sprache verrät ihre ausländische Herkunft. Tage später sitzen vier ältere geschmackvoll gekleidete Damen am benachbarten Tisch, ein typisches Kaffeekränzchen. Diesmal kann ich ihre Sprache gar nicht zuordnen. Ich erfahre von den freundlichen Damen, es sei Persisch.

Das Arabische vom Türkischen zu unterscheiden, fällt mir inzwischen nicht mehr schwer. Inzwischen kommt es vor, dass arabische Kunden die Tische zu einem Gutteil besetzen, zumeist als Gruppe von drei bis vier Männern, die Frauen, zu zweit, zu dritt, gelegentlich auch zu sechst, meist mit Kopftuch kommen, wenn sie jung sind, sehr oft, fast ist es die Regel, mit ihrem Nachwuchs. Sie sitzen meist getrennt von den Männern, leben halt gemäß ihren Traditionen. Und dennoch scheint dort unsere Zukunft zu sitzen, denn wir, die Deutschstämmigen, gehören, sichtbar meist zu den Alten. Am Nachbartisch unterhalten sich bspw. drei Rentner, was ihnen jeweils bei welcher Pflegestufe zusteht.  Zu den Alten gehört übrigens auch die Gruppe der „Jugos“. Sie nennen sich selbst so, denn sie kamen noch zu Titos Zeiten zu uns. Sie haben viele Jahre auf dem Bau oder in der Zeche hart gearbeitet und beziehen nun ihre verdiente Rente. Dramatisch aufbrechende Feindschaften zwischen Serben und Kroaten, Bosniern usw. im Zuge des blutigen Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien kennen wir bei uns zum Glück nicht. Sie bewiesen ein erstaunlich zivilisiertes Verhalten, was, wie wir seit 2015 bitter erfahren mussten, keineswegs selbstverständlich ist.

Eher zufällig komme ich mit einem libanesischen Pärchen ins Gespräch, eine seltene Begegnung. Der Mann, etwa Mitte 30, erzählt von seinem Vater, der bereits Ende der 70er-Jahre aus dem Libanon nach Deutschland gekommen war. Damals herrschte dort bereits ein blutiger Bürgerkrieg, der bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist. Dieser junge Mann wurde in Deutschland geboren, aber sein Herz schlägt, wie er sagt, noch für den Libanon, und das versteht man. Er hofft, dass die Heimat seines Vaters irgendwann mal auf die Beine kommen wird. Ich nicke und tue mich schwer, ein paar hoffnungsvolle Worte für ein Land zu finden, das einstmals, wie der Libanese bestätigt, sehr westlich gewesen war, Beirut galt einmal wegen seiner liberalen Szene als das Paris des Ostens. Seine westlich gekleidete Partnerin nickt traurig. Beide werden bleiben, und in diesem Fall, warum auch nicht.

Nach dreieinhalb Jahren Gemetzel wird die Tragödie des russisch-ukrainischen Kriegs zunehmend auch in unserer kleinen Welt bemerkbar. Im Unterschied zu der Migration aus dem arabischen Raum sind zunächst Frauen und Kinder zu uns geflüchtet. Gelegentlich sieht man auch junge Pärchen, die mit unserer Solidarität rechnen. Können sie das? Es fällt der Begriff „Europa“, das macht den Unterschied, sie wollen dazugehören.

Nicht wenige treue Kunden kommen aus den naheliegenden Wohngebieten, darunter viele deutschsprachige Essener. Sie mussten sich an die disruptiven Prozesse der letzten zehn Jahre gewöhnen. Nicht alle können das. Ein älterer Anwohner, den ich kannte, stürmt auf mich zu: „Wo ist hier noch Deutschland und wo hört es auf? Sind wir hier in Arabien, in der Türkei, ich weiß es nicht, jedenfalls erkenne ich meine Heimat nicht mehr!“  Und er setzt nach: „Haben Sie das noch nicht gesehen?“ „Was?“ „Na schauen Sie doch mal das moderne Spielding für die Kinder an.“ Also gut: Tatsächlich, eine nett aufgemachte Spielekonsole mit einem größeren Touch-Screen bietet sich den Kleinen an. Sie wird gern genutzt, alle Eltern sind über die Abwechslung für ihre Kleinen dankbar. Aber das ist nicht alles: Ab und zu werden leckere Backwaren eingeblendet, man ist sich also nicht zu schade, schon die Kleinsten auf diese Weise zu konditionieren. Was soll das? „Schauen Sie genauer hin!“ Tatsächlich ploppt außerdem bei etwa jeder zehnten Einblendung eine Moschee auf. Was sagt man dazu? Eine solche Szenerie würde selbst Houellebecq nicht einfallen, der doch das Gift einer schleichenden Unterwerfung in seinem Bestseller „Unterwerfung“ fulminant beschrieben hatte.

Spielekonsole bei Döbbe

„Babylon“

Haus Nr.266 

Der Eulenspiegel – ein Highlight der Straßenszene

Dass sich Mitte der 50er-Jahre in dieser ausgebombten Straßenzeile ein Kino etablierte und bis heute tapfer durchhielt, verdanken wir der rührigen Betreiberin, dem Denkmalschutz und seinem treuen Publikum. Die etwas fade Fassade verzeiht man gern, denn der Eulenspiegel ist ohne Übertreibung eine Ikone: Kein anderer als z. B. Wim Wenders hat diesen Saal dereinst einmal persönlich beehrt, und wer dort seinen letzten Film „Perfect Days“ gesehen hat, der weiß, es gibt keinen besseren Ort für diesen Film. Nicht ohne Melancholie verlasse ich nach dem Abspann das Kino und stehe versonnen auf der funzelig ausgeleuchteten Straße, den Song von Lou Reed noch im Ohr: „ … just a perfect day, problems are left to know …“ Ich denke: That´s the way we have to see it.